Was ist Beriberi? Die Geschichte einer Mangelkrankheit
Beriberi: Rätselhafte Symptome
Im 17. Jahrhundert reist der niederländische Arzt Jacob de Bondt nach Ostasien und beobachtet auf der indonesischen Insel Java Menschen, die von einer Krankheit betroffen sind, die ihm und dem Großteil der westlichen Welt bis dato unbekannt ist. Die Symptome sind vielfältig: Einige Erkrankte magern binnen kurzer Zeit stark ab, bei anderen schwellen die Beine an. Viele sind so geschwächt, dass sie torkeln, anstatt zu laufen. Nerven und Muskeln versagen ihren Dienst. Häufig sterben die Betroffenen. Die Einheimischen nennen die Krankheit Beriberi, was auf zwei Arten übersetzt werden kann:
- Zum einen heißt Beriberi in etwa „Schafsgang“: Es beschreibt die wackelige Fortbewegung vieler Erkrankter, die auf eine extreme Schwächung der Muskeln und Nerven zurückzuführen ist.
- Zum anderen bedeutet Beri auf Singhalesisch „Ich kann nicht“: Eine typische Äußerung von Menschen in einem späten Stadium der Krankheit, wenn aufgrund von Lähmungen selbst einfache Handlungen nicht mehr gelingen.
De Bondt ist der erste westliche Arzt, der Beriberi beschreibt. Über die Ursache der Erkrankung wird in den kommenden Jahrhunderten viel gemutmaßt. Auffällig ist eine epidemieartige Häufung der Beriberi-Fälle, nachdem in Asien im Zuge der industriellen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts geschälter weißer Reis plötzlich massenhaft verfügbar ist.
Beriberi-Forschung
Um Beriberi zu erforschen, reist der niederländische Mediziner Christiaan Eijkman Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Expertengruppe nach Indonesien. Er arbeitet in einer Klinik mit Beriberi-Patienten. Dort fällt ihm bei Experimenten an Hühnern auf, dass Tiere, die polierten Reis zu fressen bekommen, ebenfalls Beriberi-Symptome entwickeln: Sie vermögen sich nach einiger Zeit nicht mehr auf der Stange zu halten, kippen beim Laufen um und bekommen Schwierigkeiten beim Schlucken. Wird nichts unternommen, sterben die Hühner binnen weniger Tage.
Gibt Eijkman ihnen hingegen ungeschälten Reis, verbessert sich ihr Gesundheitszustand.
Die Reiskornhülle und die Entdeckung des Thiamins
Als Folge aus Eijkmans Beobachtung wird bei der Behandlung von Beriberi auch die Ernährung von erkrankten Menschen umgestellt. Die Patienten bekommen fortan ebenfalls ungeschälten Vollkornreis zu essen – und die Beriberi-Symptome verschwinden.
Einige Jahre später isoliert eine Forschergruppe dann aus der offenbar so nährstoffreichen Hülle des Reiskorns das Vitamin B1, Thiamin, das im menschlichen Körper unter anderem für die Funktion des Nervensystems unentbehrlich ist.
Eijkman erhält 1929 für seine Forschungsarbeit den Nobelpreis für Medizin – doch er bleibt der Verleihung fern. Über den Grund wird erzählt, dass der Mediziner daran gezweifelt habe, dass die These von Beriberi als Mangelkrankheit stimmt. Er habe vielmehr den Verdacht gehegt, dass die bei den Patienten beobachteten Beriberi-Symptome auch Vergiftungserscheinungen sein könnten, die mit einer Vitamin-Unterversorgung allein nicht zu erklären seien. Auch der bei einigen Erkrankten beobachtete teilweise kurze und heftige Verlauf von Beriberi ähnele eher einer Vergiftung.
Dennoch gilt Beriberi fortan als Vitamin-B1-Mangelkrankheit, die bei einseitiger Ernährung mit poliertem Reis auftritt. Allerdings verdichten sich mit den Jahren die Hinweise darauf, dass an Eijkmans Verdacht etwas dran ist.
Auch Nervengift löst Beriberi-Symptome aus
So finden japanische Wissenschaftler Anfang der 1970er-Jahre heraus, dass Beriberi-Symptome auch durch das Nervengift Citreoviridin ausgelöst werden können. Dieses Gift wird von Schimmelpilzen gebildet, die sich auf Reiskörnern ansiedeln. Möglicherweise war zum Beriberi-Höhepunkt Ende des 19. Jahrhunderts das kühl-feuchte Klima der Reismühlen ein guter Nährboden für den Schimmelpilz – und wer verschimmelten Reis aß, erkrankte. Zudem könnte aus dem feucht-kühlen Norden Japans exportierter, mit Schimmelpilz befallener Reis die Ursache von Erkrankungen in den Nachbarländern gewesen sein.
Erstaunlicherweise wirken indes hochdosierte Vitamin-B1-Gaben nicht nur gegen Thiamin-Mangel, sondern auch gegen das Nervengift – was eine weitere Erklärung für die so erfolgreichen Fütterungsexperimente Eijkmans sein könnte. Heute wird vermutet, dass Thiamin das körpereigene Gegenmittel gegen Citreoviridin ist.
Beriberi-Krankheit: Anzeichen und Verlaufsformen
Bis heute ist die Diagnose Beriberi aufgrund der Vielzahl von Symptomen nicht immer leicht zu stellen.
Frühe Beriberi-Symptome sind sie recht unspezifisch:
- Müdigkeit
- Leistungsabfall
- Konzentrationsstörungen
- Unruhe
- Zittern
- Übelkeit
- Bauchschmerzen
Bei chronischen Verläufen werden in der Folge diese Formen der Erkrankung typischerweise unterschieden:
Trockene Beriberi:
- Vor allem neurologische Symptome
- Doppelsehen
- Muskelschwäche
- Nervenlähmungen
- Reflex- und Empfindungsstörungen
- Desorientierung
- Wahnvorstellungen
- Verwirrtheit
Feuchte (kardiale) Beriberi
- Bildung von Ödemen (Wassereinlagerungen im Gewebe)
- Störungen des Herz-Kreislauf-Systems bis hin zur Herzinsuffizienz
- Kurzatmigkeit, Atemnot
Ist eine stillende Mutter unzureichend mit Thiamin versorgt, wirkt sich der Nährstoffmangel auch auf den Säugling aus.
Mögliche Symptome einer Säuglings-Beriberi:
- Erbrechen
- Koliken
- Trinkschwäche
- Abmagerung
Beriberi weitgehend eingedämmt
Heutzutage ist die Verbreitung von Beriberi durch eine ausreichende Vitamin-B1-Versorgung der Bevölkerung sowie Hygieneregeln in der Reisproduktion weitgehend eingedämmt. Doch treten weltweit immer wieder Fälle auf, vor allem in Ländern, deren Bevölkerung nicht ausreichend zu essen hat.
Im Wohlstandsländern erkranken Menschen an Beriberi in der Regel höchstens als Folge von Alkoholismus, der die B1-Versorgung des Körpers stark beeinträchtigt. In seltenen Fällen kann auch eine angeborene Thiamin-Aufnahmestörung der Grund für die Erkrankung sein. Therapiert wird in der Regel mit hochdosiertem Vitamin-B1.